„Es geht nicht um juristische Feinheiten, sondern ums Ganze“
Aufgegeben werden müsste folglich nicht nur das nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts […] verbürgte „Recht auf Leben“. Entfallen soll auch die Pflicht der Schwangeren, sich über staatliche Hilfen für Mutter und Kind und über die Rechte des Ungeborenen informieren zu lassen. Und als wäre das noch nicht genug, sollen die gesetzlichen Krankenkassen […] die Kosten tragen […]. Bei weit mehr als 100.000 vorgeburtlichen Kindstötungen […] jedes Jahr […] bedeutet das eine Belastung der Versicherten von – Minimum – mehr als 35 Millionen Euro pro Jahr. […]
Weit umfangreicher als der finanzielle Schaden, wäre jedoch der moralische. […] Denn wenn die Vernichtung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen im Mutterleib „rechtmäßig“ würde und Abtreibung damit zu einer medizinischen Leistung wie andere würde, wird jede Empfängnis eines Kindes dadurch zu einer „Krankheit“ und Abtreibung zu einer „Heilbehandlung“, die von einem vermeidbaren „Schaden“ befreite. […] Ein Kind wäre nicht länger ein „jemand“, der Würde besitzt und dessen Rechte respektiert werden müssen, sondern etwas, das allein von der „Gnade“ seiner Erzeuger abhinge. Da aber restlos alle Menschen auch einmal Kinder waren, wären auch sie […] bloß noch geduldet. […] Der bloß Geduldete lebt in der ständigen Furcht, dass seine Duldung zeitlich […] befristet ist. […] Der Ruf nach dem „ärztlich assistierten Suizid“ und der „Tötung auf Verlangen“ erschallt nicht um sonst so laut. Von Seiten derer, die sich mit den bislang Geduldeten nicht länger belasten wollen, genauso wie von Seiten derer, die sich nicht länger als bloß Geduldete erfahren wollen.
Bei der […] Streichung der Paragrafen 218ff aus dem Strafgesetzbuch […] geht es also nicht um Paragrafenreiterei oder juristische Feinheiten. Es geht ums Ganze. Um die Art, wie wir einander ansehen und wie wir mir miteinander umgehen. Das hat Konsequenzen […] nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für ihr Verständnis von Staat und Recht. […] Wenn das „Recht auf Leben“, das faktisch die Grundlage aller anderen Grundrechte ist, kein Grundrecht mehr ist, gibt es überhaupt keine Grundrechte mehr. Wenn es aber keine Grundrechte mehr gibt […], (würde) Recht zufällig und damit allein der Laune wechselnder Mehrheiten unterworfen. Mehr noch: Recht würde zu einer bloßen Fiktion. Eine, die auch keinen Anspruch auf Rechtstreue oder gar Rechtsgehorsam beanspruchen könnte. Willkommen in der Anarchie.
Kommentar:
Der Kommentator fragt sich, ob es in unserer Gesellschaft, in unseren Parlamenten, in den Medien, an den Universitäten, in den Schulen und auch in den Kirchen überhaupt noch genügend Personen bzw. Persönlichkeiten gibt, die die im Artikel angesprochenen Fragen verstehen und sich damit – auch öffentlich – auseinandersetzen und Orientierung zu geben bereit sind.
Als strahlendes Vorbild soll daher hier noch einmal Papst Benedikt XVI. mit seiner brillanten Rede vor dem Deutschen Bundestag zitiert werden:
„Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. […] Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. […] Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte [„Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“] bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.“
https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedict/rede-250244
Doch scheinen nicht allzu viele Mitglieder des Bundestags diese Rede verinnerlicht zu haben. Kein Wunder! Denn schon am 22.09.2011 war im Spiegel zu lesen: „Rund hundert Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken erklärten zuvor, die Papstrede boykottieren zu wollen.“
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