Ein Kommentar von Hans-Joachim Lietzmann, Wermelskirchen
In Corona-Zeiten:
Europäische Werte
Einheit in der Vielfalt
Beschädigte Grundrechte
Systemrelevante Helden des Alltags
Am 22.04.20 berichtet die F.A.Z. vom Geschehen in einem niederländischen Krankenhaus, bei dem einer dementen 74-jährige Frau „Sterbehilfe“ geleistet wurde, obwohl diese sich, nachdem ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt war und sie erwachte, gegen die Verabreichung des tödlichen Medikamentes wehrte.
In einem abschließenden Gerichtsverfahren wurde die handelnde Ärztin freigesprochen.
In Betrachtung der Realität in Deutschland und Europa ist festzustellen, daß bezüglich des Begriffes „der Europäischen Werte“, wie er von vielen Politikern gebraucht wird, häufig wenig konkrete Übereinstimmung besteht. Denn noch ist glücklicherweise die deutsche Rechtsauffassung entfernt von niederländischen Regelungen der Sterbehilfe.
Wer wollte -gleich den Franzosen- in Deutschland bewaffnete Soldaten zur Gefahrenabwehr in den Straßen sehen? Selbst der Versuch gemischter deutsch-französischer militärischer Wachen wurde längst aufgegeben. Auch ist feststellbar: Medien berichten gerne von National- oder Gedenkfeierlichkeiten der Franzosen; bewerten positiv, wenn die Nationalhymne „geschmettert“ wird. Allein, es ist kaum vorstellbar, einen inhaltlich ähnlichen deutschen Text öffentlich vorzutragen.
Wie weit praktischer Alltag unterschiedlich gelebt, angeordnet und vollzogen werden, wird auch in Corona-Zeiten offensichtlich. Grenzen werden geschlossen oder bleiben geöffnet; Ausgangsbeschränkungen weiter oder enger gefaßt. Das Klopapier wird in Deutschland knapp, da es dem Deutschen offenbar ein ganz wichtiges (lebensnotwendiges?) Gut ist.
Dem Franzosen hingegen ist es Nebensache, weiß er doch seit Militärzeiten, das er dafür nötigenfalls selber sorgen muß. So kümmerten sich in der multinationalen französischen Division in Mostar Ende der 90er Jahre ein deutscher Oberst mit seinem Stab um die Regelung dieses Problems, das dem französischen Offizier allenfalls ein Problemchen ist.
Diese Beispiele verdeutlichen grundsätzlich bestehende nationaler Unterschiede der Betrachtung von Gegebenheiten. Doch besteht kein Grund diese aufzuheben, sondern vielmehr zeigt die Geschichte wie das tägliche Leben, daß Unterschiede grundsätzlich eine Bereicherung waren und sind.
In einem Beitrag der F.A.Z. vom 25.04.20 schreibt Prof. Dr. Oliver Lepsius (Münster) von beschädigten Grundrechten. „Grundrechte verlangen, bei der hoheitlichen Willensbildung berücksichtigt zu werden, und sie beschränken die Eingriffe auf das Verhältnismäßige.“
„So orientierten sich die Ausnahmen von Betriebsuntersagungen an einer „Systemrelevanz“, einem verfassungswidrigen Kriterium, weil die Grundrechte keine Hierarchisierung der Freiheitsbereiche zulassen.“ In der Verfolgung der Ethik-Diskussion dieser Tage füge ich hier die Fragwürdigkeit der Aussage ein: Es gilt jedes Leben zu retten!
Prof. Lepsius schreibt auch den Satz: „Es wurde ohne Sinn und Verstand exekutiert…“ Und ich habe mir den Zeitungsausschnitt des RGA vom 21.03.20 aufbewahrt, mit der „Allgemeinverfügung der Stadt Wermelskirchen vom 17.03.2020 zum Verbot von Veranstaltungen“ in der unter Ziff. 1. auch das Verbot für Gottesdienste ausgesprochen wird. Eine Maßnahme, die eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig ist, da sie als Verbot gegenüber einer Institution daherkommt, auf der unser Staatswesen gründet.
Systemrelevante Helden des Alltags
In diesen Corona-Zeiten wird viel von Berufen oder Tätigkeiten gesprochen, die systemrelevant wären und daher einer besonderen moralischen oder geldwertigen Würdigung erwarten dürften. Desgleichen werden in den Medien Helden des Alltags vorgestellt.
Allein mir scheint, es werden hier Sachverhalte als neu und bemerkenswert beschrieben oder herausgestellt, die dem nachdenklichen Betrachter, der das Geschehen in der Welt im Wissen um gesellschaftliche Prozesse und um geschichtliches Geschehen, als ganz gewöhnlich erscheinen.
Wer ein harmonisches Zusammenleben in einer Familie betrachtet, wird feststellen, daß dies nur auf Dauer gelingt, wenn jedes Mitglied der Gemeinschaft seinen Teil beiträgt. Dieser mag größer oder kleiner sein, jedoch muß er den Erwartungen der anderen Person(en) in hinreichendem Maße entsprechen. Eine besondere moralische oder geldwerte Würdigung der Einzelpersonen ist in der Familie nicht gegeben, da deren Existenzziel in der Prosperität der Gemeinschaft liegt und sich in der gegenseitigen Zuneigung und Sorge um das Wohlergehen ausdrückt.
Wer das Zusammenleben der Menschen in einer Dorfgemeinschaft, in einem Betrieb betrachtet, erkennt, daß die Einzelpersonen Aufgaben wahrnehmen, die im Zusammenwirken der Menschen eine Bereicherung für die Gesellschaft oder die Produktionsgemeinschaft zur Herstellung von Gütern sind. Bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen ist es grundsätzlich notwendig, daß jeder in seiner Funktion sein Tätigkeitsfeld ausfüllt. Erst im Zusammenwirken der Einzelnen kann das gewünschte Ergebnis erzielt werden.
Daher ist in diesem Zusammenspiel jeder systemrelevant und wertvoll, unabhängig vom Alter, den Fähigkeiten und der Entlohnung. Grundsätzlich ist jede Tätigkeit nicht immer Quell der Freude sondern zugleich auch Last und Anstrengung, „Kampf“. Helden gibt es viele (betrachtet man die Gedenkstätten zu Kriegs- und Katastrophenzeiten) oder nur einzelne (Heilige, Märtyrer), gemäß dem (Zeit-) Maßstab.