Der Holodomor – Völkermord an Ukrainern?

Der Holodomor – Völkermord an Ukrainern?

Gastbeitrag von Johanna Locke

Fußgänger und verhungernde Bauern auf einer Straße in Charkiw 1933; Foto: Alexander Wienerberger

Zunächst eine grundsätzliche Bemerkung vorab: die komplexe Geschichte der sowjetischen Hungersnot speziell und der ukrainisch-russischen Beziehungen allgemein lässt sich natürlich nicht in diesem kurzen Text darstellen: Ungenauigkeiten lassen sich nicht vermeiden. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf Wikipedia-Artikel: wenn man in der Lage ist, die Propaganda auszusortieren, findet man hier immer noch sehr brauchbare Informationen in komprimierter Form. Man sollte nur in der Lage sein, eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Wer sich – wie ich – über dieses Thema hinaus für faktenbasierte Weltgeschichte ohne „moralische Einordnung“ interessiert, findet ausgezeichnete (englischsprachige) Videos auf den YouTube-Kanälen von „Kings and Generals“ und „Epic History“.

Und nun zum eigentlichen Thema:
Der Holodomor gehört sicher zu den schlimmsten Katastrophen des letzten Jahrhunderts, fand aber bisher erstaunlich wenig Beachtung in deutschen Geschichtsbüchern. Am 30.11.2022 ordnete der Bundestag den Holodomor 1932/33 als „Völkermord“ an den Menschen der Ukraine ein. Entspricht das den Tatsachen?

Zunächst ist es wohl eine Frage der Definition. Laut Wikipedia steht der Begriff „für den Teil der Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“. Es gab also eine größere Hungersnot, die eben nicht nur die Ukraine, sondern den größten Teil der landwirtschaftlich dominierten Regionen der damaligen Sowjetunion betraf.
Tatsächlich war diese Hungerkatastrophe wohl eher ein Konflikt zwischen Industrialisierung und Landwirtschaft, befördert von der bolschewistischen Führung. Diese fand ihre Anhänger von Beginn an vor allem unter den Industriearbeitern in den großen Städten, während die Landbevölkerung eher wenig von den kommunistischen Utopien hielt.

Von besonderer Bedeutung sind hier die Kosaken: ursprünglich slawische Bewohner der Steppengebiete in der heutigen Ukraine und im südlichen Russland, die sich ab dem 16. Jh. zunächst im Kampf gegen Überfälle der Tataren, später auch gegen die Unterdrückung durch Polen-Litauen zu Verbänden von Wehrbauern zusammenschlossen. Nachdem sich die Fürstentümer der Rus von den Mongolen/Tataren befreit und unter den Moskauer Zaren vereint hatten und ihr Reich ausdehnten, fielen auch die Kosakengebiete nach und nach unter russische Herrschaft, teilweise zogen die Kosaken auch bewusst die russische der polnisch-litauischen Herrschaft vor. Die Beziehungen zwischen Kosaken und den Zaren in Moskau verliefen nicht immer harmonisch, bis zum 18. Jh. gab es zahlreiche blutige Aufstände für mehr Autonomie und bessere Lebensbedingungen. Im 19. Jh. wurden die Kosaken nach Gewährung gewisser Privilegien jedoch zu einer tragenden Säule des Zarenreiches. So verwundert es nicht, dass die Mehrheit der 4,5 Millionen Kosaken sich während der Oktoberrevolution 1917 und im danach folgenden Bürgerkrieg 1918-20 gegen Lenins Bolschewiki stellte. Diese antworteten mit der Entkosakisierung.

Zusätzlich stand Lenin durch die Folgen des 1. Weltkriegs, der Revolution und des Bürgerkriegs vor der drängenden Aufgabe, die Menschen in den Städten mit Nahrungsmitteln versorgen zu müssen. Dazu wurde das Feindbild des „Kulaken“ geschaffen, das im Prinzip alle wohlhabenden Landwirte – und später auch die bäuerliche Mittelschicht – betraf: „Diese Blutegel saugten das Blut der Werktätigen und wurden um so reicher, je mehr der Arbeiter in den Städten und Fabriken hungerte. Diese Vampire brachten und bringen den Boden der Gutsbesitzer an sich, sie zwingen die armen Bauern immer und immer wieder in Schuldknechtschaft. Erbarmungsloser Krieg gegen diese Kulaken! Tod ihnen!“ Zur Entkosakisierung kam also die Entkulakisierung.

Bereits in Lenins „Dekret über Grund und Boden“ von 1917 wurde die Grundlage für die Enteignung wohlhabender Bauern gelegt. Dazu kam die forcierte Industrialisierung. 1921 bekannte Lenin: „Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren.“ Die Bauern wurden gezwungen, ihre Erzeugnisse zu niedrigen Festpreisen abzugeben bzw. man ließ die Lebensmittel gleich durch bewaffnete Kommandos abholen. Die Bauern reagierten mit Arbeitsverweigerung, was zu weiterer Nahrungsmittelknappheit führte.

Im ersten Fünfjahresplan (1928-33) wurde das Ganze durch Stalin weiter vorangetrieben: mit Getreideausfuhren sollten die nötigen Mittel beschafft werden, um den Ausbau der Schwerindustrie (u.a. zur Waffenproduktion) zu gewährleisten. Dazu kam die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft: ab 1929 wurden die Bauern gezwungen, ihre Höfe abzugeben und sich planwirtschaftlich organisierten Großbetrieben (Kolchosen und Sowchosen) anzuschließen. Wer sich weigerte, wurde deportiert. Dennoch leisteten die Bauern Widerstand, indem sie lieber ihr Vieh schlachteten und ihre Geräte zerstörten als sie den Kommunisten zu überlassen. Insgesamt wurden 2,1 Millionen Menschen in entfernte Gebiete deportiert, von denen 300.000 bereits auf dem Transport verstarben. 2 bis 2,5 Millionen Menschen wurden innerhalb der Heimatregion zwangsumgesiedelt. Diese Maßnahmen wirkten sich entsprechend auf Arbeitsmoral und Arbeitsproduktivität der Bauern auf, die folgende Katastrophe war absehbar.

Sie begann 1931 in Kasachstan. Die kasachischen Viehzüchter waren zwangsumgesiedelt und zum Getreideanbau verpflichtet worden. Sie mussten ihr Vieh verkaufen, um Getreide zu kaufen und anzubauen, das dann zu großen Teilen requiriert wurde. Dazu kamen zwei Missernten in 1931 und 1932 und die Hungersnot dehnte sich bald auf alle sowjetischen Landwirtschaftsregionen (Ukraine, Südwestrussland, Kasachstan) aus. Als sich 1932 ein Konflikt mit Japan in der Mandschurei anbahnte, verschärfte Stalin seine Politik erneut: Diebstahl von „Kollektivbauernbesitz“ wurde mit 10 Jahren Gefängnis bis zur Todesstrafe bedroht, auch die Strafen für Nichterfüllung von Getreidebeschaffungsmaßnahmen wurden drastisch verschärft. Dazu kamen Anfang 1933 Ausreiseverbote (insbesondere Ukraine und Kasachstan), mit denen die Flucht der Bauern aus den hungernden Gebieten verhindert wurde. Bewaffnete Truppen zogen durch die Dörfer, um auch die letzten Lebensmittel zu requirieren.

Schätzungen der Todeszahlen haben im Verlauf der Geschichte variiert, liegen aber nach neuestem Stand zwischen 8.000.000 und 9.000.000. Davon entfallen über 3.500.000 auf die Ukraine, über 3.000.000 auf Russland und über 1.200.000 auf Kasachstan. In dieser Zeit verkaufte die Sowjetunion mehr als eine Million Tonnen Weizen auf dem Weltmarkt, um für die Industrialisierung und Waffenproduktion benötigte Maschinen kaufen zu können.
Schon die Zahlen der Todesopfer deuten darauf hin, dass es sich eher nicht um einen zielgerichteten Völkermord an Ukrainern gehandelt hat. Auf Landkarten verdeutlich findet man es hier und hier (zu beachten: Die hier eingezeichneten Grenzen der Ukraine entsprechen nicht den Grenzen von 1933). Dabei ist meiner Meinung nach recht deutlich erkennbar, dass nicht nur die Gebiete mit ukrainischer Bevölkerungsmehrheit betroffen waren, sondern auch die russischsprachigen Gebiete in der Ostukraine und die Krim – sowie natürlich auch andere landwirtschaftlich dominierte Regionen in Südwestrussland (Nordkaukasus, Wolga-Region, Süd-Ural, West-Sibirien und in Kasachstan.

Die andere Frage ist, ob die Hungerkatastrophe als solche geplant war – oder „nur“ ein Ergebnis staatlicher Planwirtschaft, wobei Stalin kein Opfer zu hoch war, um seine Ideologie durchzusetzen. Ich tendiere eher zu Letzterem – in Anbetracht der bekannten Ansichten von Stalin und Lenin über die Notwendigkeit der Industrialisierung und den Sieg des Kommunismus. Passend dazu auch dieses Zitat von Stalin: „Ein einzelner Toter ist eine Tragödie. Eine Million Tote sind nur eine Statistik.“ Andererseits war diese planwirtschaftlich verursachte Hungersnot schon eine gute Gelegenheit, sich aufmüpfiger Ukrainer, russischer und kasachischer Bauern und Nomaden zu entledigen. Und es ist verständlich, dass der Holodomor insbesondere in der Ukraine den Hass auf alles Russische schürte.

Und welche Konsequenzen sollten wir heute daraus ziehen? Das muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Persönlich frage ich mich zunächst, inwieweit es sinnvoll ist, Völker, die sich so unversöhnlich zu hassen scheinen wie Ukrainer und Russen, unter eine Regierung zu zwingen, insbesondere, wenn diese einseitig dominiert und nicht kompromissbereit ist.

Zum anderen sollte man – auch in Anbetracht aktueller Entwicklungen in der westlichen Welt – immer vor Augen haben, zu welchen Katastrophen ideologisch gesteuerte Planwirtschaft führen kann.

Aber das ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung…